Kammern des Schreckens

Montag, 4. August 2014

Flammentülpchen

Anne Fine
Typisch Tulipa



Natalies Vater hat beruflich in wechselnden Hotels zu tun, und so zieht seine Familie von Ort zu Ort, bis sie wohl endlich sesshaft wird. Natalie nutzt die Gelegenheit sofort, eine echte Freundin zu finden, als sie erstmals Tulipa begegnet. Tulipa. Wie kann man so heißen? Und doch ist sie fast mehr Erscheinung als Mensch, bald schon eine Obsession. Bis der Nebel sich allmählich lichtet und vage Silhouetten des Dunklen, Bösen die Form von Natalies kleiner Freundin annehmen. 

Das Mädchen wächst unter grauenhaften Umständen auf. So, wie ihr Vater es ihr beibringt, behandelt sie auch ihre Mitmenschen. 


Tulipa ist wie eine subtilere Carrie, wenn auch nicht so wirkungsvoll, trotzdem bodenständig, real, greifbar und furchterregend. 
Der Roman unterscheidet sich von Kings Schöpfung vor allem durch den kindlichen Schreibstil, mit dem Anne Fine den Leser auf nackter, tiefgründiger Ebene erreicht. Die Geschichte schreit förmlich durch die Stille. Zudem sind die Botschaften der jeweiligen Werke ein wenig differenziert aufzunehmen. Auch Carrie ist ein Appell an allgemeine Menschlichkeit und respektvollen Umgang. Tulipa thematisiert jedoch ganz konkret das Verhalten von Kindern, die daheim eine Opferrolle übernehmen und draußen versuchen, möglichst effektiv und häufig Täter zu sein. Nicht, indem sie ungewöhnliche Fähigkeiten nutzen. Ganz gewöhnlich. Vollkommen schnörkellos, wie es eben auch in der Realität ist.


Die beste Freundin von Natalie scheint eher eine Erscheinung als ein Mensch zu sein, und doch ist sie schmerzhaft menschlich. Fine hat recht: niemand wird bösartig geboren. Tulipas gibt es überall auf der Welt, deshalb ist dies ein Roman über die Verantwortung von Wissenden, sogar Ahnenden. Trotz passender Kürze (in der ja bekanntlich manchmal die Würze liegt) erscheint die Handlung jedoch an einigen wenigen Stellen langatmig, weil die Spannung nicht in Bögen verläuft, sondern irgendwann verebbt ohne entsprechenden Eindruck hinterlassen zu haben.

Dem Leser wird ein Spiegel vorgestellt; der einer Gesellschaft, in der Menschen viel reden, doch kaum handeln können - sich empören, jedoch nicht einschreiten können. Stattdessen üben sie ihre Macht an den schwächsten Gliedern aus. In diesem Fall Tulipa, die wiederum bloß der um Hilfe rufende Spiegel ihres gewalttätigen Vaters ist. 


Anne Fines Feinfühligkeit ist scharf wie eine Klinge, wie eines dieser japanischen Sushimesser, die drucklos und federsanft jeden Knochen in Nullkommanichts halbieren. Wenn der Griff dieses Messers ihr eigentümlicher, aber wirksamer Humor ist, so ist dessen Klinge mit einer Menge Herz und Verstand geschliffen. Genug überflüssige Metaphern.

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Verlag und Bildquelle: Diogenes
Erschienen im: Okt. 1999
Seiten: 192 (Hardcover)
ISBN: 978-3-257-23136-6
Preis: Leider momentan nicht lieferbar.

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