Kammern des Schreckens

Sonntag, 17. August 2014

Auf dass die Fernsehgeräte schmoren

Amélie Nothomb
Reality-Show
Ein weiterer Roman über die tiefen Abgründe der menschlichen Seele


Folgende Grausamkeit erweist sich als die beste Produktionsidee in der Geschichte des Fernsehens (und aller anderen Medien): Gecastete Aufseher wachen auf brutalste Weise über Gefangene eines Lagers, kommandieren sie herum, entscheiden über deren Leben - oder Tod.
Helden der Show sind die ausgemergelten Gefangenen, die wissen, dass sie hier sterben werden. Umso verlockender für das Publikum, dass es per Fernbedienung täglich zwei ihrer Lieblinge für die Show opfern kann.

Nothomb wurde für ihre außergewöhnlichen Werke bereist vielfach ausgezeichnet. Unverkennbar ist ihr oft morbider Zynismus, der auch im vorliegenden Werk für die richtige Würze verantwortlich ist.
Man merkt schon, dass die Autorin privat ihre Freunde am liebsten auf dem Friedhof trifft, es blickt einfach durch. So passen ihre Pointen vollkommen natürlich ins Bild: Sie fühlt sich wohl auf dem Gebiet der bitterbösen Menschlichkeit.

Ich habe durchaus schon vernichtende Kritik zu Reality-Show gelesen, die sich hauptsächlich an den minimalistischen Schreibstil klammerten. Der führt beinahe unweigerlich dazu, dass dem Leser die Aufgabe gegeben wird, selbstständig Bruchstücke zu nutzen und besonders feinfühlig solche zu Persönlichkeiten zusammenzusetzen. Die Charaktere halte ich somit absolut nicht für flach oder seelenlos. Sie sind, was der Leser aus ihnen macht, so wie die Grausamkeit der Show mit dem Namen Konzentration ist, was das Publikum von der Show verlangt (wenn auch zum Teil unbewusst).

Zugegebenermaßen entspricht dieses Werk der Autorin, vermutlich weniger als ihre anderen Arbeiten, nicht unbedingt den Lesebedürfnissen der breiten Masse. Viele Leser sind, verständlicherweise, denkfaul. Sie wollen ein gemachtes Nest mit ausgereiften Figuren. Schließlich sind sie die Konsumenten, nicht selber die Autoren. Gerade auch weil es sich um ein seitenarmes Buch handelt, erwartet der Leser nicht wirklich, sein eigenes schöpferisches Talent nutzen zu müssen. 

Nothomb hätte locker drei- bis vierhundert Seiten Reality-Show schreiben können. Wie der Titel aber schon sagt, ist die Handlung so realitätsnah, sind die Charaktere so typisch, dass nur die Zutatenliste erforderlich ist, um zu wissen, wie der Eintopf gekocht werden muss. Es ist nicht erforderlich, zu erklären, dass es sich um diese spezielle Art von Eintopf handelt, die man eigentlich zu jeder Gelegenheit servieren kann.

Wenn man meint, die Unglaubwürdigkeit dieses raffinierten Werkes beweisen zu können, muss man vor idiotischen Fernsehsendungen wie Promi-Big-Brother die Schweinsäuglein verschließen. Dazu kommt, dass sogar eine Utopia-Show geplant ist. Man nutzt die Natur willenloser und geldhungriger Menschen, um aus ihnen Versuchskaninchen für die eigenen unglaublichen Experimente zu machen. Solange es Zuschauer gibt, gibt es auch Freiwillige, die sich erniedrigen lassen. 
Solange es Zuschauer gibt, ist die Art dieser Erniedrigung ein Spiegel unserer Gesellschaft.

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Erschienen: im August 2009
Verlag und Bildquelle: Diogenes
Seiten: 176 (Hardcover)
ISBN: 978-3-257-23943-0
Preis: 8,90€ [D]

Montag, 4. August 2014

Flammentülpchen

Anne Fine
Typisch Tulipa



Natalies Vater hat beruflich in wechselnden Hotels zu tun, und so zieht seine Familie von Ort zu Ort, bis sie wohl endlich sesshaft wird. Natalie nutzt die Gelegenheit sofort, eine echte Freundin zu finden, als sie erstmals Tulipa begegnet. Tulipa. Wie kann man so heißen? Und doch ist sie fast mehr Erscheinung als Mensch, bald schon eine Obsession. Bis der Nebel sich allmählich lichtet und vage Silhouetten des Dunklen, Bösen die Form von Natalies kleiner Freundin annehmen. 

Das Mädchen wächst unter grauenhaften Umständen auf. So, wie ihr Vater es ihr beibringt, behandelt sie auch ihre Mitmenschen. 


Tulipa ist wie eine subtilere Carrie, wenn auch nicht so wirkungsvoll, trotzdem bodenständig, real, greifbar und furchterregend. 
Der Roman unterscheidet sich von Kings Schöpfung vor allem durch den kindlichen Schreibstil, mit dem Anne Fine den Leser auf nackter, tiefgründiger Ebene erreicht. Die Geschichte schreit förmlich durch die Stille. Zudem sind die Botschaften der jeweiligen Werke ein wenig differenziert aufzunehmen. Auch Carrie ist ein Appell an allgemeine Menschlichkeit und respektvollen Umgang. Tulipa thematisiert jedoch ganz konkret das Verhalten von Kindern, die daheim eine Opferrolle übernehmen und draußen versuchen, möglichst effektiv und häufig Täter zu sein. Nicht, indem sie ungewöhnliche Fähigkeiten nutzen. Ganz gewöhnlich. Vollkommen schnörkellos, wie es eben auch in der Realität ist.


Die beste Freundin von Natalie scheint eher eine Erscheinung als ein Mensch zu sein, und doch ist sie schmerzhaft menschlich. Fine hat recht: niemand wird bösartig geboren. Tulipas gibt es überall auf der Welt, deshalb ist dies ein Roman über die Verantwortung von Wissenden, sogar Ahnenden. Trotz passender Kürze (in der ja bekanntlich manchmal die Würze liegt) erscheint die Handlung jedoch an einigen wenigen Stellen langatmig, weil die Spannung nicht in Bögen verläuft, sondern irgendwann verebbt ohne entsprechenden Eindruck hinterlassen zu haben.

Dem Leser wird ein Spiegel vorgestellt; der einer Gesellschaft, in der Menschen viel reden, doch kaum handeln können - sich empören, jedoch nicht einschreiten können. Stattdessen üben sie ihre Macht an den schwächsten Gliedern aus. In diesem Fall Tulipa, die wiederum bloß der um Hilfe rufende Spiegel ihres gewalttätigen Vaters ist. 


Anne Fines Feinfühligkeit ist scharf wie eine Klinge, wie eines dieser japanischen Sushimesser, die drucklos und federsanft jeden Knochen in Nullkommanichts halbieren. Wenn der Griff dieses Messers ihr eigentümlicher, aber wirksamer Humor ist, so ist dessen Klinge mit einer Menge Herz und Verstand geschliffen. Genug überflüssige Metaphern.

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Verlag und Bildquelle: Diogenes
Erschienen im: Okt. 1999
Seiten: 192 (Hardcover)
ISBN: 978-3-257-23136-6
Preis: Leider momentan nicht lieferbar.